Auf dem Boden des Grundgesetzes

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Betrachtung des Grundeinkommen im Zusammenhang mit dem Grundgesetz, insbesondere in Bezug auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2010.

Am 09.02.2010 hat das Bundesverfassungsgericht das Grundrecht auf Existenzminimum geschaffen, indem es dieses aus dem Grundgesetz abgeleitet hat. Im Leitsatz 1 heißt es dort:

“Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.”

Grundgesetz

Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Artikel 20 Absatz 1 Grundgesetz
Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

Diese beiden Artikel stehen nicht nur im Grundgesetz, sondern unterliegen darüber hinaus noch der sogenannten “Ewigkeitsklausel” in Artikel 79 Absatz 3 Grundgesetz:
Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.

Das Existenzminimum wird unter Randziffer 135 im Urteil genauer beschrieben:

„Der unmittelbar verfassungsrechtliche Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich nur auf diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind. Er gewährleistet das gesamte Existenzminimum durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie, die sowohl die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit (vgl. BVerfGE 120, 125 <155 f.>), als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst, denn der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen (vgl. BVerfGE 80, 367 <374>; 109, 279 <319>; auch BVerwGE 87, 212 <214>).

An dieser Stelle wird ein Teil der Definition des Grundeinkommens schon erfüllt, nämlich die Sicherung von Existenz und gesellschaftlicher Teilhabe.

Definition des Grundeinkommens

(laut Netzwerk Grundeinkommen)
Ein Grundeinkommen ist ein Einkommen, das eine politische Gemeinschaft bedingungslos jedem ihrer Mitglieder gewährt. Es soll

– die Existenz sichern und gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen,
– einen individuellen Rechtsanspruch darstellen sowie
– ohne Bedürftigkeitsprüfung und
– ohne Zwang zu Arbeit oder anderen Gegenleistungen garantiert werden.

Im 2. Leitsatz des Urteils heißt es dann:

Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat. Dabei steht ihm ein Gestaltungsspielraum zu.

Da steht also, dass das Existenzminimum immer wieder an den Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen ausgerichtet werden muss, es also folglich auch nicht durch Inflation oder andere Preissteigerungen unerfüllt bleiben darf. Außerdem ist das Gewährleistungsrecht unverfügbar und muss eingelöst werden.

Unter Randziffer 137 wird klargestellt:

Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt.

“Stets” bedeutet an dieser Stelle umgangssprachlich „immer“ und daraus folgt, dass es eigentlich auch “nicht sanktionierbar” ist. Genaueres wird im aktuellen Verfahren dazu erwartet. Es wird lediglich an einer Stelle auf die Möglichkeit einer zeitlichen Vorverlegung der Auszahlung in Form eines Darlehens verwiesen, bei der in der Folge die Regelleistung um 10% vermindert wird. Die Gesamthöhe der Auszahlungen wird durch die Inanspruchnahme des Darlehens aber nicht verändert – im Gegensatz zur tatsächlichen Sanktionspraxis, welche einen bestrafenden Aspekt ins Sozialgesetzbuch hineinträgt.

Dies stellt sich unter Randziffer 150 wie folgt dar:

Danach können Hilfebedürftige ein Darlehen erhalten, wenn ein unvermutet auftretender und unabweisbarer einmaliger Bedarf durch angesparte Mittel nicht gedeckt werden kann. Das Darlehen wird zwar in den nachfolgenden Monaten dadurch getilgt, dass der Grundsicherungsträger 10 % von der Regelleistung einbehält. In Anbetracht der Ansparkonzeption des Gesetzgebers ist diese vorübergehende monatliche Kürzung der Regelleistung jedoch im Grundsatz nicht zu beanstanden.

In der Definition des Grundeinkommens steht allerdings nicht nur “Rechtsanspruch”, sondern dieser soll auch „individuell“ gelten. Auch im Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird “auf die Würde jedes Einzelnen” verwiesen und sowohl unter Randziffer 134 als auch unter 137 auf den “individuellen Grundrechtsträger” Bezug genommen.

Einen wesentlichen Unterschied zum Bedingungslosen Grundeinkommen macht das Bundesverfassungsgericht bei der Bedürftigkeit. Diese wird bei Randziffer 134 eindeutig gefordert:

Wenn einem Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil er sie weder aus seiner Erwerbstätigkeit, noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann, ist der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen dafür dem Hilfebedürftigen zur Verfügung stehen. Dieser objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG korrespondiert ein Leistungsanspruch des Grundrechtsträgers, da das Grundrecht die Würde jedes individuellen Menschen schützt (vgl. BVerfGE 87, 209 <228>) und sie in solchen Notlagen nur durch materielle Unterstützung gesichert werden kann.

Die aktuelle Praxis verweist allerdings durchaus auf Hilfe und Zuwendungen Dritter, wie soziale Einrichtungen, Tafeln oder unverheiratete Lebenspartner. Dabei wird unter Randziffer 136 dies eigentlich ausdrücklich ausgeschlossen:

Ein Hilfebedürftiger darf nicht auf freiwillige Leistungen des Staates oder Dritter verwiesen werden, deren Erbringung nicht durch ein subjektives Recht des Hilfebedürftigen gewährleistet ist.

Die Prüfung der Jobcenter auf das Einkommen der Lebenspartner steht dazu im klaren Widerspruch, denn dort besteht kein einklagbares Recht auf Zuwendung, egal wie viel Einkommen der Partner hat. Innerhalb einer Ehe sieht das anders aus. Dort wird dem unterhaltspflichtigen Ehepartner allerdings auch der Steuerfreibetrag zugebilligt (bekannt als Ehegattensplitting). Bei Unverheirateten besteht dieser Vorteil nicht und auch keine gegenseitige Unterhaltspflicht. Trotzdem wird aktuell demjenigen Lebenspartner ohne ausreichendes eigenes Einkommen das Existenzminimum nicht gewährt.

Durch dieses Urteil nicht beeinträchtigt bzw. als verfassungsmäßig nicht zu beanstanden bewertet wurde die Minderung des Existenzminimums bei erwachsenen Partnern einer Bedarfsgemeinschaft.  Da durch das gemeinsame Wirtschaften Aufwendungen gespart werden, vermindert sich das Existenzminimum hier entsprechend. Randziffer 154:

Der Gesetzgeber durfte davon ausgehen, dass durch das gemeinsame Wirtschaften Aufwendungen gespart werden und deshalb zwei zusammenlebende Partner einen finanziellen Mindestbedarf haben, der unter dem Doppelten des Bedarfs eines Alleinwirtschaftenden liegt.

Im 4. Leitsatz wird die Möglichkeit, das Existenzminimum durch eine Pauschale (wie ein Grundeinkommen es wäre) zu gewähren, ausdrücklich erlaubt – zumindest, und dabei geht das Urteil über die Definition des Grundeinkommens hinaus, solange für individuelle Mehrbedarfe ein zusätzlicher Leistungsanspruch eingeräumt wird.

Der Gesetzgeber kann den typischen Bedarf zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums durch einen monatlichen Festbetrag decken, muss aber für einen darüber hinausgehenden unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarf einen zusätzlichen Leistungsanspruch einräumen.

Über einen Zwang zur Arbeit oder Gegenleistungen wurde im Urteil von 2010 noch nichts gesagt. Dies ist allerdings Gegenstand der mündlichen Verhandlung am 15.1.2019, denn dort wird unter anderem über die Sanktionspraxis bei Ablehnung von Arbeits- und Weiterbildungsangeboten gesprochen und später auch geurteilt.

Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit Ronald Trzoska erstellt.

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