Das Existenzminimum ist unteilbar

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Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil vom 05. November 2019 festgestellt, dass Sanktionen nicht der Erziehung, Bestrafung oder Repression dienen dürfen. Sie sind lediglich dann mit dem Grundgesetz vereinbar, wenn sie evident (also wissenschaftlich erwiesen) dem Ziel der eigenständigen Existenzsicherung dienen. Die Beweislast ist umgekehrt worden, nun muss das Jobcenter im Zweifelsfall nachweisen, dass die Sanktionen in Länge und Höhe angemessen sind und tatsächlich dem Ziel einer selbstständigen Existenzsicherung dienen. Das wird auf die reale Sanktionspraxis sehr große Auswirkungen haben und die Anzahl der Sanktionen massiv reduzieren.

Bei vielen offensichtlich sinnlosen Maßnahmen dürfte es kaum möglich sein nachzuweisen, damit eine eigenständige Existenzsicherung zu fördern. Insofern kann das Fernblieben bei diesen dann auch kaum mehr sanktioniert werden. Hat eine Bewerbung auch wirklich das Potential, danach den Lebensunterhalt zu sichern? Oder wird die angebotene Stelle dafür zu gering entlohnt.  Erhöht das X-te Bewerbungstraining wirklich die Chance auf eine Anstellung? Ist es der psychischen Verfassung dienlich, Druck auszuüben, oder wird damit die Erwerbsperspektive sogar verschlechtert?

Sanktionen über 30% nicht mehr zulässig

Zudem hat das Bundesverfassungsgericht Sanktionen oberhalb der 30% für nicht zulässig erklärt, da hierfür das Ziel, einer eigenständigen Existenzsicherung förderlich zu sein, nicht nachgewiesen sei oder sogar ernsthaft bezweifelt wird. Des Weiteren muss es dem Sanktionierten möglich sein, durch eine Verhaltensänderung die Sanktion zeitnah (max. 1 Monat) wieder zu beenden.

Nicht untersucht wurden in diesem Verfahren die Ungleichbehandlung von unter 25-Jährigen und die 10% Sanktionen bei Terminversäumnissen. Auch die Höhe des Existenzminimums wurde nicht erneut geprüft, nachdem die Art der Berechnung im Urteil vom 9.2.2010 schon als nicht verfassungsgemäß bemängelt worden war. Klargestellt wurde allerdings, dass das Existenzminimum inclusive der soziokulturellen Teilhabe gilt und unteilbar ist. Eine Unterscheidung in physische und soziale Existenz ist somit ausgeschlossen worden.

Was bleibt, ist die grundsätzliche Ausrichtung auf das Ziel, dass jeder seine Existenz selbst sichern soll. Und um dieses Ziel zu erreichen, erlaubt das Gericht auch in der Zukunft Sanktionen. Eine Änderung dieses Prinzips war meines Erachtens auch nicht zu erwarten. Und sei es aus der Perspektive von Grundeinkommensbefürwortern auch noch so wünschenswert.

Wer ist für die Existenzsicherung zuständig – alle gemeinsam oder jeder selbst?

Denn hier kommt ein wesentlicher Unterschied zwischen einer Grundsicherung (mit oder ohne Sanktionen) und dem Grundeinkommen zum Tragen. Grundsicherung füllt die Lücken, wo die Existenz nicht selbstständig gesichert wird. Ob das Erwerbsarbeit ist, Vermögen oder Leistungen aus den Sozialversicherungen wie Rente oder Krankengeld, ist dem Gesetzgeber egal. Die Bedürftigkeit wird geprüft und nur wenn es keine andere Quelle gibt, springt die Grundsicherung ein.

Beim Grundeinkommen wird die Frage danach, wer für die Existenzsicherung zuständig ist grundsätzlich anders beantwortet. Nicht mehr jeder für sich selbst, sondern alle gemeinsam – als Staat.

Ein Grundeinkommen bekäme jeder. Egal ob Rentner, Erwerbstätiger, Privatier, Familienangehöriger oder „Bedürftiger“. Die Existenz aller wäre durch das Grundeinkommen gesichert. Der Rest käme (ggf. nach anderer Berechnungsgrundlage oder auch höher versteuert) oben drauf. Die Pflicht, sich in die Gesellschaft einzubringen, bestünde weiterhin. Aber sie würde nicht mehr unter Androhung von Entzug der Existenzgrundlage durch den Staat eingefordert.

Mit einem Grundeinkommen könnte niemand mehr gezwungen werden, eine Arbeit anzunehmen, die er selbst nicht für zumutbar hält. Ein moralischer und sozialer Druck, sich aber trotzdem oder vielleicht auch gerade deswegen, weil er nicht gezwungen werden kann, einzubringen, besteht weiterhin. Diese Komponenten würden sogar noch wichtiger werden, wenn das Geld als Belohnung einen geringeren Stellenwert erhielte. Das Grundeinkommen sichert die Existenz. Die Frage, was jemand mit seinem Leben macht, wird damit aber nicht beantwortet.

Wünschenswert und durchaus denkbar wäre es, dass mit einem Grundeinkommen auch andere Arten, sich sinnvoll in die Gesellschaft einzubringen, aufgewertet werden würden. Egal ob im ehrenamtlichen, kulturellen, sozialen oder im familiären Bereich. „Was machst Du so?“ würde immer noch gefragt werden. Die Antworten darauf könnten vielfältiger ausfallen und würden nicht mehr von „und davon kannst Du leben?“ gefolgt werden.

Grundprinzip der Bedürftigkeit in Frage stellen

Dieses Umdenken, diesen Paradigmenwechsel  von einer Grundsicherung zum Grundeinkommen werden wir nicht vom Bundesverfassungsgericht serviert bekommen. Dieser grundlegende Perspektivwechsel muss in der gesellschaftlichen Breite verankert und in der Politik umgesetzt werden. Im Widerspruch zum Grundgesetz würde es nicht stehen, denn die Verfassungsrichter legen nicht fest, wie das Existenzminimum gesichert werden muss. Das Sozialstaatsprinzip mit Bedürftigkeitsprüfung und dem Ideal der selbstständigen Existenzsicherung ist nicht der einzige Weg dahin.

6 Kommentare

  1. „Im Widerspruch zum Grundgesetz würde es nicht stehen, denn die Verfassungsrichter legen nicht fest, wie das Existenzminimum gesichert werden muss. Das Sozialstaatsprinzip mit Bedürftigkeitsprüfung und dem Ideal der selbstständigen Existenzsicherung ist nicht der einzige Weg dahin.“

    Ja, ein wichtiger Hinweis, der auch die BGE-Debatte voran treiben kann.
    sprich, die bedingungslose Existenzsicherung nicht alleine monetär , sondern darüber hinaus zu denken.
    Geschieht ja bereits durch Forderungen von Initiativen z.B. nach kostenfreiem öffentlichem Nahverkehr, Förderung des sozialen Wohnungsbau und weitere die Existenz sichernde Maßnahmen wie kostenfreie Bildung für alle, Gesundheitsversorgung/Pflege………

  2. Man hat da im jüngsten Urteil eine Hintertür eingebaut, um im Sonderfall eben doch den vollständigen Entzug der Lebensgrundlage zu „legitimieren“.
    Und gerade deswegen, und noch abseits derschon formal-rechtlichen Widersprüche, in die man sich notwendig verstricken musste bei solcher Ausgestaltung des Urteils, ist die Forderung eines Grundeinkommens so unglaublich wichtig. Sonst werden wir bei diesem gefährlichen staatlichen Balanceakt immer wieder derartige „Abfälle“ zu beklagen haben.

    Viele Grüße

    Alfred.

  3. Wichtig die Härtefallregelung, welche keinerlei Sanktionen erlaubt: drohende, oder bestehende Obdachlosigkeit, Stomsperren, psychische Erkrankungen, Belastungen. Es hat zum Glück die Plattform: Sanktionsfrei​ gute Anwälte werden Sanktionen zerpflücken. Wichtig darum jetzt Sanktionsfrei zu unterstützen, das geht schon mit 1 Euro im Monat, oder besser 6 Euro wenn wir alle wollen, dass Sanktionen der Vergangenheit angehören!

  4. Andererseits könnte das Urteil auch das Ende von Hartz 4 eingeläutet haben.
    Denn viele äußerst sinnbefreite Massnahmen dienten ja nur dazu zu kaschieren, dass es kaum mehr Erwerbsarbeit für jeden gibt (daher die an Ersteren Teilnehmenden auch aus der Statistik fielen!)
    Ausserdem ist das Machtgefaelle jetzt ein gutes Stück weit ausgeglichener. Wenn die Erwerbslosen selbstbewusster denn je auftreten, die Sachbearbeiter/-innen weniger und überhaupt man das Unrecht nicht mehr (so) auf seiner Seite weiss, kann das wahre Wunder bewirken. (Schon deshalb, weil es weniger potenzielle machtgeile Sadisten anzieht!)

  5. Sanktionsfrei ist grundsätzlich eine gute Idee. Sanktionen selbst sind allerdings im Verhältnis relativ selten: 3 % der sogenannten Kunden des Jobcenters werden sanktioniert. Das ändert nichts an der Unrechtmäßigkeit einer derartigen Praxis. Allerdings ist Hartz VI an sich bereits Sanktion. Die Berechnungszeiten, beispielsweise bei Veränderungen im Arbeitsbereich (ErwerbsArbeitsplatzwechsel, Lohnunterschiede usw. usf.), sind derart lang, dass u. U. zu hoch berechnete Aufstockungsbeträge über Monate kumulieren oder bei ErwerbsArbeitsplatzverlust die gezahlte Aufstockung zu gering ist, um damit zu überleben. In beiden Fällen gibt es keinerlei Entgegenkommen seitens des Amtes. Entweder Recklinghausen meldet sich mit einer Rückzahlungsforderung in voller Höhe (Inkassounternehmen der Agentur für Arbeit), oder Geld zum Überleben muss bei Freunden geliehen werden, bis die Nachzahlungen und der neue Bewilligungsbescheid eintreffen. Das kann durchaus mehrere Monate dauern. Hat sich inzwischen wieder etwas geändert, ist auch dieser neue Bewilligungsbescheid bereits hinfällig … eine unglaublich unmenschliche Bürokratie, die die Menschen, die auf derartige Zahlungen angewiesen sind, bestenfalls lähmt. Sie halten entweder in prekären Beschäftigungsverhältnissen durch, oder sie ignorieren diese – oder gar bessere! – von vornherein. Nur, um nicht in die Mühlen dieses demütigenden Berechnungswahnsinns zu geraten.

  6. „Die Bedürftigkeit wird geprüft und nur wenn es keine andere Quelle gibt, springt die Grundsicherung ein.“

    Genau dies ist immer mein Kritikpunkt. Die Bedürftigkeit muss mehr oder minder wahrscheinlich gemacht werden: man kann sie nicht so weitgehend zweifelsfrei erweisen, wie man etwa einen Krebs diagnostiziert – gerade wenn man jetzt auch noch eine „selbst verschuldete“ Bedürftigkeit zum Ausschluss der natürlichen einführen will.
    Wie will man abklären, ob jemand vorher ganz bestimmt Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hat, sein Erwerbseinkommen selbständig zu sichern, bevor er seinen Leistungsanspruch anmeldete? Vielleicht war er lieber „faul“? -Aber gerade das ist doch der unterschwellige Vorwurf!
    Das System strotzt nur so von Widersprüchen, und wird komplett an sich selbst scheitern, das ist klar. Deshalb sind die Vorstoßversuche und Initiativbewegungen zum Grundeinkommen schon an sich von Grund auf zu würdigen.

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